Da, dazwischen und dabei

von Jan Verwoert

BUCHT Serie Lena Maria Loose, Abschlussarbeit Ostkreuzschule für Fotografie, 2019, Klasse Ludwig Rauch, Rummelsburger Bucht Berlin

Freiheit ist nicht bloß ein Begriff. Sie ist gelebte Erfahrung. Ihr widmet Lena Maria Loose die Fotoserie „Bucht“. Deren Bilder zeigen eine Situation, in der eine Gruppe von Menschen an einem bestimmten Ort mit ihren Mitteln Freiheit lebt. Looses Fotos handeln von den einzelnen Leuten, ihrer Ausstrahlung, ihren Körpern und Persönlichkeiten genauso wie von dem Charakter ihrer Beziehungen zueinander, der Energie, die zwischen ihnen entsteht und in gewissen Augenblicken aufblitzt. Die Menschen erscheinen in Looses Bildern jedoch nie losgelöst von dem Ort, an dem, und den Dingen, mit denen sie ihr Leben in Freiheit möglich machen. Alles hängt irgendwie zusammen. Und diesen Zusammenhang bringt Loose zum Ausdruck. Sie ist gewissermaßen Teil von ihm. Ohne die Anwesenheit der Kamera je zu leugnen verbindet sich ihr Blick mit den Dynamiken des Geschehens, das um sie herum stattfindet. Sie taucht in Details ein und faltet aus dem Geist dieser Nähe eine Welt auf: Zaun überklettert, Matte ausgerollt, Zelt aufgeschlagen, Boot angelegt, am Fluss, zwischen Schienen, Mauern, Wasser, Graffiti und Gestrüpp, unter Plastikplanen oder freiem Himmel, bei Sinnen und druff, in voller Montur oder nackt, tun die Leute, was am Tag zu tun ist, feiern, ringen, baden – Politik und Liebe machen inbegriffen. Auf der anderen Seite der Spree sieht man im Hintergrund klar die neuen Condos. Vorne treibt ein großer rosa Flamingo aus aufblasbarem Gummi hinter einer von Stacheldraht bekränzten Hütte auf dem Fluss ins Bild.

Das alles sieht aus und fühlt sich an wie Berlin 2019: Die Stadt stöhnt unter dem Druck der Gentrifizierung auf. Wer Raum gekauft hat, treibt dessen Preis hoch, schöpft den Gewinn aus dem Image der lebenswerten Stadt ab und vertreibt die, die ihr Leben geben. Das Kapital versucht die Kuh zugleich zu melken und zu schlachten. War nach dem Mauerfall halb Berlin gefühlt „Bucht“, sind heute Orte rar, wo niemand weiß, wem was gehört und Besitz nicht sofort staatlich verteidigt wird. Das wenige dieser Orte trotzdem noch existieren, gibt ihnen besondere Bedeutung. Diesen Status journalistisch oder künstlerisch auszuschlachten, wäre ein leichtes. Das tut Lena Maria Loose jedoch genau nicht. Weder verkauft sie die Bucht im Stil einer Reportage als „Story“, noch überhöht sie das freie Leben ins Symbolische: kein „Ecce Homo“, kein Ausstellen von Helden und Heilanden in ihren Bildern. Visuell verwebt sie stattdessen Ort, Menschen und Dinge eng miteinander. Nichts und niemand wird vorschnell aus dem Zusammenhang herausgerissen und gierig als „Hingucker“ in den Vordergrund gedrängt. Im Gegenteil, ihre Fotos lassen den Blick ringsumher und immer weiter wandern, von Körpern zu Haltungen zu Kleidungen zu Decken, Planen, Pflanzen, Zäunen, Booten, dem Hund, dem Fluss, dem Spliff in der Hand und weiter. Auf diese Weise erfährt man: der Geist der Freiheit strahlt von den Körpern in die Umgebung ab, um von ihr zurück gespiegelt zu werden. Er steckt in allem.

Looses Aufnahmen sind körperlich konkret, detailgenau und unverklärt. Statt die Situation bloß abzufeiern, bewegt sie sich in ihr, und sichtlich nicht erst seit gestern. Zeit vergeht in den Fotos. Erst war es kühl. Jetzt ist Sommer. Die Fotografin ist immer noch und wieder da, dazwischen und dabei. Auf diese Weise eröffnet sie erst einen Zeithorizont, der die politische Dimension von Freiheit vielleicht erst wirklich erfahrbar werden läßt. Politik und Freiheit lassen sich nicht auf Ereignisse reduzieren. Niemand ist einen Tag lang politisch oder frei. Politik und Freiheit sind kein Ausnahmezustand mit zeitlicher Befristung. Sie kommen erst dann zum Tragen, wenn sie auf Dauer gestellt sind, wenn sie irgendwie jeden Tag und in allen Dingen sichtbar werden, und deshalb auch oft beinahe unsichtbar bleiben. Keine Konfettikanone kündet an: Kabumm, Politik hier Freiheit jetzt. Leben gerät in den Zustand des frei und politisch Seins und erhält ihn Tag für Tag anders: Wie organisieren wir uns heute, so dass es weiter gehen kann? Das ist keine Ausnahme von der Regel, sondern ein Grundzustand. Auf Dauer. Keine Angst. Ist machbar, Herr Nachbar. Das ist die Stimmung, die Looses Fotos verströmen, weil sie wiedergeben, wie sich Leben in der Bucht anfühlen mag, nicht bloß für den Moment, sondern über lange Zeit, in jedem Winkel. Die Aufnahme und Auswahl ihrer Bilder geschieht spürbar aus einem Gefühl der Verbundenheit mit der Haltung der Leute und dem Geist des Orts heraus. Von Identität muss da gar nicht erst die Rede sein. Von Solidarität aber durchaus.


Jan Verwoert ist ein in Berlin lebender Kritiker und Autor, der sich mit zeitgenössischer Kunst und Kulturtheorie auseinandersetzt. Er ist Mitredakteur des frieze magazine und seine Texte sind in verschiedenen Zeitschriften, Anthropologien und Monographien erschienen. Er war u.a. Professor for Theory an der Oslo National Academy of the Arts, er lehrte am Piet Zwart Institute Rotterdam und an der Royal Academy in London.